Absturzrisiko in Zahlen
Nach wie vor erleiden viele Personen einen Absturzunfall.
Über mehrere Jahre statistisch betrachtet sieht es leider so aus:
- Alle zwei Wochen ein Toter durch Absturz (Jedes Jahr enden 22 Absturzunfälle tödlich)
- Jeden Tag ein Invalider durch Absturz (Ø 280 dieser Opfer haben bleibenden Schäden)
- Ø 9000 berufsbedingte Absturzunfälle ereignen sich jährlich in der Schweiz.
- Ø 260 Mio CHF direkten Schaden pro Jahr verursachen Absturzunfälle. Dies ist ein Viertel aller Leistungen, welche die Suva jährlich für Berufsunfälle zahlt.
- Ø 23’000. – kostet die Suva ein Absturzunfall (Taggeld, Heilkosten und Kapitalwerte). Im Vergleich: ein beliebiger Arbeitsunfall kostet Ø 5’000. –
- Ø 466’000.– kostet ein absturzbedingter Invaliditätsfall.
- Ein absturzbedingter Invaliditätsfall kostet bis zu 2.5 Mio CHF.
- Fast jeder dritte Berufsunfall mit bleibenden Schäden oder Todesfolge ist ein Absturzunfall.
- Eine Hauptursache bei Absturzunfällen sind mangelhafte Arbeitsvorbereitung, fehlende Schulung sowie erhebliche Selbstüberschätzung.
Quelle: Suva VT 2006–2015, Nur Fälle von Suva-Versicherten, Durchschnittswerte
Gefahrenermittlung
Gefahrenermittlung und Massnahmenplanung:
In der Praxis müssen in der Arbeitsvorbereitung (AVOR) Arbeitsschritte mit Absturzrisiken seriös beurteilt und passende Massnahmen festgelegt und veranlasst werden.
Die Erfahrung aus unzähligen Unfällen hat folgendes gezeigt:
Wo bezüglich Absturzrisiken die AVOR vernachlässigt worden ist, wird oftmals improvisiert oder noch schlimmer ungesichert gearbeitet!
Eine simple Gefahrenermittlung und damit verbundene Massnahmenplanung ist kein Hexenwerk!
Kein Projekt ist zu klein, um die Ausrede gelten zu lassen, dass der Aufwand hierfür unverhältnismässig wäre.
Zum Erstellen einer Gefahrenermittlung ist in erster Linie Praxiswissen und gesunder Menschenverstand gefragt!
Die Suva bietet Hilfsmittel und informative Broschüren zum Thema an:
www.suva.ch/psaga
Gesetzliche Grundlagen
UVG Unfallversicherungsgesetz
VUV Verordnung über die Unfallverhütung
BauAV Bauarbeitenverordnung
KranV Kranverordnung
StGB Strafgesetzbuch
DAS WICHTIGSTE KURZ ZUSAMMENGEFASST
- Arbeiten in der Höhe müssen geplant sein.
- Absturzsicherungsmassnahmen sind ab 2,0 m Absturzhöhe zu treffen.
- Bei Hochbauarbeiten ab 3,0 m Absturzhöhe ist es Pflicht, Fassadengerüste, Fanggerüst, Flächengerüst oder Auffangnetze zu montieren.
- Boden- und Dachöffnungen sind unabhängig von der Absturzhöhe zu sichern.
- Bei nicht durchbruchsicheren Dachflächen müssen ab einer Absturzhöhe von 2,0 m Absturzsicherungsmassnahmen getroffen werden.
- Ausnahme: Arbeiten auf Dächern von kurzer Dauer (max. 2 Personenarbeitstage), Absturzsicherung ab 3,0m.
- Kollektivschutz (z.B. Gerüste) und technische Hilfsmittel (z.B. Hubarbeitsbühnen) sind der PSAgA vorzuziehen.
- Die PSAgA ist nur zulässig, wenn Kollektivschutzmassnahmen technisch nicht möglich oder erwiesenermassen gefährlicher sind.
- Wenn der Einsatz von der PSAgA nötig ist, ist ein schriftliches Sicherheits- und Rettungskonzept der PSAgA in Beizug eines Arbeitssicherheits-Spezialisten zu erstellen.
- Für Arbeiten mit der PSAgA ist nur nachweislich ausgebildetes Personal einzusetzen.
- Alleinarbeit mit der PSAgA ist grundsätzlich nicht zulässig.
- Die Rettung ist jederzeit, innerhalb von 10–20 Minuten, mit vor Ort vorhandenen Mitteln sicherzustellen (bereits nach 10 Minuten können bleibende Schäden eintreten).
BauAV Bauarbeitenverordnung (D,F,I)
VUV Verordnung über das Unfallversicherungsgesetz (D,F,I)
UVG Unfallversicherungsgesetz
StGB Strafgesetzbuch
Arbeitsvorbereitung
Die Arbeitsvorbereitung hat einen äusserst hohen Stellenwert bei Arbeiten mit Absturzrisiken.
Priorisierung:
1. Kollektivschutz & technische Massnahmen
2. PSAgA
Kollektivschutz
Kollektivschutz und technische Lösungen haben klar Vorrang (z.B Fassadengerüste, Auffangnetze und Hubarbeitsbühnen.)
Die Verwendung von persönlichen Schutzausrüstungen (PSAgA) kann in Betracht gezogen werden, wenn das Anbringen von kollektiven Schutzeinrichtungen oder der Einsatz
technischer Hilfsmittel nicht möglich oder gefährlicher als die Ausführung der Arbeiten mit Anseilschutz ist. Das Argument «Gerüst ist zu teuer» berechtigt nicht dazu!
Wichtig:
Rettung ist jederzeit mit eigenen Mittel sicherzustellen.
Eignung der Personen
Für Arbeiten mit PSAgA muss man:
• mindestens 18 Jahre alt sein (vergl. Art. 4 / ArG V5 & SR 822.115.2)
• Körperlich und geistig gesund sein (Selbstdeklaration)
• Drogen- oder Alkoholproblemfrei sein
• Höhenangstfrei sein
In der Schweiz ist man zur Zeit für Arbeiten mit Absturzrisiken nicht der Arbeitsmedizinischen Vorsorge unterstellt.
Es sind auch keine Eignungsuntersuchung vorgeschrieben (wie z.B G41 in Deutschland)
Der Mitarbeiter ist jedoch verpflichtet, allfällige gesundheitliche Beeinträchtigungen mit dem Arbeitgeber abzusprechen, wenn dadurch seine eigene oder die Gesundheit von Dritten beim Ausführen von Arbeiten in der Höhe beeinträchtigt werden kann.
Bei Schulungen für PSAgA wird empfohlen, die Teilnehmer eine Selbstdeklaration des eigenen Gesundheitszustands ausfüllen und unterschreiben zu lassen.
PSAgA – Sachkundigenprüfung
Regelmässig wird die Frage gestellt, wer denn PSAgA – Materialprüfung durchführen dürfe und ob dazu ein bestimmter Kurs notwendig sei.
Dieser Abschnitt soll hierüber Klarheit verschaffen:
- Es gibt keine präzise gesetzliche Grundlage zu diesem Thema. (Vergl. VUV Art. 32 a / 32b)
- Entsprechend darf dies jeder, welcher das Material nach Herstellerangaben prüfen kann und über die nötige Qualifikation (ggfs. auch nach Herstellerangaben) verfügt.
Das heisst: für jedes Produkt (Auffanggurt, Karabiner, Seil, Seilkürzer, Höhensicherungsgerät etc. muss die Wartung / Kontrolle exakt nach Gebrauchsanleitung des jeweiligen Herstellers erfolgen und muss dokumentiert sein. - Der PSAgA Sachkundige (Kontrolleur) muss sich bewusst sein, dass seine Kontrolle eine Verwendungsfreigabe für eine weitere Verwendungsperiode darstellt.
Hinweis:
Wenn der jeweilige Hersteller verlangt, dass für sein Produkt für die Wartung eine Ausbildung bei ihm absolviert werden muss (z.B. HSG) muss das respektiert werden.
Fachthemen PSAgA
Unter dieser Rubrik werden spezifische Themen abgehandelt.
Die Information ist kurz und knapp – wo möglich wird zu Artikeln mit mehr Informationsgehalt verlinkt.
Hängesyndrom
Ein Hängesyndrom («Hängetrauma») ist ein potenziell lebensbedrohlicher Schockzustand, beispielsweise infolge längerem, bewegungslosem freiem Hängen in einem Auffanggurt.
URSACHEN
- Blut wird beim Menschen in den Venen durch Bewegung und den dadurch entstehenden Druck der Muskulatur auf die Venen zurück zum Herz gepumpt (Muskelpumpe).
- Beim regungslosen Hängen im Auffanggurtsystem versackt das Blut in Beine und Arme. Die Muskelpumpe funktioniert nicht mehr. Dies führt zu ernsthaften Kreislaufproblemen und kann auch zu Sauerstoffmangel im Gehirn führen.
DIE ZEIT LÄUFT DAVON!
- Man geht davon aus, dass bereits nach 10 Minuten regungslosem Hängen bleibende Schäden eintreten können.
- Nach spätestens 20 Minuten sollte eine Person aus der hängenden Position entlastet sein.
WICHTIG
Rettungsdienste müssen auf die Gefahr eines Hängesyndroms und eines drohenden Bergungstodes hingewiesen werden! Wenn es die Vitalfunktion der Person erlaubt, die verunfallte Person in Oberkörperhochlage halten.
Sturzraum
Beim Arbeiten mit PSA gegen Absturz muss in Abhängigkeit aller eingesetzten Komponenten der notwendige Sturzraum berücksichtigt werden.
Ziel:
Ein Anprall oder Aufprall während dem Sturz und beim Auffangen muss verhindert werden!
Je nach Auswahl der Systemkomponenten und der Lage des Anschlagpunkts kann der nötige Sturzraum zwischen 0.50 bis 10.0m oder mehr liegen!
Wesentliche Einflussfaktoren sind:
- Lage des Anschlagpunkts (möglichst immer direkt über der Person und über Kopfhöhe)
- Länge des gesamten Verbindungsmittels
- Verlängerung des Verbindungsmittels
Beispiel: die Seildehnung eines EN1891-Seils beträgt 5%!
Ein nasses Seil kann sich bis 1.5 mal mehr als ein trockenes dehnen! - Verlängerung des Falldämpfers
= effektive, sturzhöhenabhängige Ausreisslänge
→ Bei geringen Sturzhöhen reisst der Falldämpfer nur wenig auf.
→ Die Aufrisslänge kann von einem Fachmann berechnet werden - Streckung Auffanggurt
- Abstand zwischen Auffangöse und Schuhen
- Reserve 1.00m (Systemelastizität etc.)
Pendelsturz
Der Pendelsturz – ohne es selber erlebt zu haben, unterschätzt man diese Gefahr!
Urteile selbst – Bilder sprechen mehr als tausend Worte…
Sturz über einen Vordachrand
Übungen für eine Schulung PSAgA (nur unter Anleitung des Instruktors)
Fachthemen Bau
Unter dieser Rubrik werden verschiedenste Themen, welche immer wieder zu Diskussionen, Fragen oder Missverständnissen führen aufgegriffen.
Oblichter und Lichtkuppeln
Selten hat jemand Angst, wenn er neben einem Oblicht oder einer Lichtkuppel steht oder vorbeigeht.
Meist sind diese nicht transparent und täuschen so ein Gefühl von Stabilität und Durchbruchsicherheit vor.
Weitere Informationen finden Sie auch auf der Suva Webseite
Für Oblichter und Lichtkuppeln aus Acryl, Polycarbonat oder PET gilt:
- Kein Hersteller kann für sein Produkt langzeitgarantien abgeben!
(sehr oft beschränkt sich die Deklaration auf den Zeitpunkt des Einbaus) - Oblichter im Bereich von Arbeitsplätzen oder Verkehrswegen müssen zuverlässig & dauerhaft gesichert sein.
- Ein zuverlässiger Langzeitschutz gegen Durchsturz im Sinne des Endkunden und Arbeitnehmers kann nur mit Kollektivschutz erreicht werden (= konstruktive Zusatzmassnahmen wie Geländer, Gitter, Netze etc.)
- Im Zweifelsfall ist ein Oblicht immer nicht durchsturzsicher
Ausgangslage
- Dächer werden immer mehr aktiv genutzt und nehmen eine zentrale Rolle in der Gebäudenutzung ein (Retention, Solaranlagen, Begrünung etc.)
- Unterschiedliche Interpretation der Vorgaben und Massnahmen zur Reduktion des Durchsturzrisikos bei Oblichtern sind an der Tagesordnung
- Besteller, Endkunde und Lieferant gehen meist von unterschiedlichen Vorstellungen aus.
- Die Suva registriert unverändert regelmässig Durchstürze durch Oblichter und daraus resultierend schwere Absturzunfälle!
Die Dunkelziffer (Beinaheunfälle, Durchtritte etc.) dürfte wesentlich höher sein.
Gesetzeslage (VUV Art. 17):
Dächer, die aus betrieblichen Gründen oft betreten werden müssen, sind so zu gestalten, dass sie von den Arbeitnehmern sicher begangen werden können.
Hinweis: Als oft wird eingestuft, wenn es auf dem Dach technische Installationen, Solaranlagen, Extensivbegrünung etc. gibt, an welchen in regelmässigen Abständen Unterhalts- oder Reparaturarbeiten ausgeführt werden müssen.
Stand der Technik / Regeln der Baukunde:
Kernsaussagen:
- Lichtkuppeln und Lichtbänder aus Kunststoffen sind langfristig nicht durchbruchsicher
- Alle Lichtkuppeln müssen mit einem baulichen Kollektivschutz gesichert sein (Geländer, innen- oder aussenliegendes Gitter etc.), ausser das Dach kann / muss nur Jahre später für Sanierungszwecke betreten werden
- Im Bereich von Oblichtern mit über 3.0m Absturzhöhe sind für den Unterhalt am geöffneten Oblicht EN795 Anschlageinrichtungen (Ankerpunkte) anzubringen.
- Werden Oblichter ausgewechselt / saniert, sind diese in dieser Zeit vollflächig zu sichern, falls dabei eine vorhandene Kollektivschutzeinrichtung mit entfernt wird.
Wann muss ein Oblicht / Lichtband aus Kunststoff durchbruchsicher / durchsturzsicher sein?
- Wenn der betroffene Gebäudebereich für Dritte frei zugänglich ist.
- Wenn auf dem Dach technische Anlagen vorhanden sind, welche regelmässigen (mind. 1 x jährlich) Unterhalt benötigen (Lüftung etc.)
- Dächer mit intensiv oder extensiv Begrünung
- Dächer mit Solaranlagen
- Dächer mit ungesicherten Verkehrswegen
(bei Nacht oder Schnee als solches nicht erkennbar)
Glasoblichter in solchen Bereichen müssen normkonform mit Verbundsicherheitsglas ausgestattet sein.
Ingenieurlösungen / engineered solutions
In vielen Spezialfällen / Extrembaustellen versagt unser «Lieferantenkatalog» – know how.
Das was wir alle aus dem Bauwesen oder dem Maschinenbau kennen, ist bei Arbeiten mit Absturzrisiken (PSAgA & rope access) noch sehr wenig verbreitet.
Eine Statik für eine Betondecke oder einen Stahlträger lässt man beim Bauingenieur und eine Maschine vom Maschineningenieur berechnen.
Wie machen wir das mit einer projektspezifischen Absturzsicherung und was muss dabei berücksichtigt werden?
Grundsätze:
- Das Gesetz sieht vor, dass der Stand der Technik angewandt werden muss.
- Wo Standard-Lösungen das Schutzziel nicht gewährleisten, müssen individuelle Lösungen gefunden werden, welche nachweislich gleichwertig oder besser sind.
Sogenannte engineered solutions sind demnach möglich, ja sogar zwingend. - Engineered solutions müssen die geltenden Sicherheitsbestimmungen vollumfänglich erfüllen. Der Verantwortliche dafür ist nachweispflichtig:
Ein regelkonformer / prüffähiger Sicherheitsnachweis, welcher die sicherheitsrelevanten Punkte von PrSG (Produktesicherheitsgesetz), PSA-RL 89/686/EWG
und der damit verbundenen Normen (z.B. EN363, 364, 365, 795 & SIA Tragwerksnormen) berücksichtigt, muss vor Ort greifbar vorliegen.
Beispiel:
Eine Brücke wird erstellt oder saniert. Sie führt über eine Schlucht / unwegsames Gelände. Dabei müssen schwere Stahl- und Stahlbetonträger mit dem Kran versetzt werden. Zu diesem Zeitpunkt ist es technisch nicht möglich, ein Auffangnetz zu montieren. Damit die Träger positioniert und abgehängt werden können, muss eine Überkopf-Liefeline installiert werden. Am Markt findet man keine geeignete Produkte, welche sich auf alle Träger montieren lassen. Anstelle irgendetwas zu basteln, entscheidet man sich, die Lifeline und die Lifeline-Montagepfosten projektspezifisch zu bemessen, herzustellen und zu testen.
Vorgehensweise:
- Bauingenieur mit Kenntnissen der Berechnung von Lifelines berechnet & konstruiert die nötigen Stahlteile, inkl. QM-Plan für Herstellung.
- Der Ingenieur erstellt eine Montage- und Unterhaltsanleitung, ggfs in Zusammenarbeit mit einem PSAgA Spezialisten.
- Eine qualifizierte Stahlbaufirma stellt die Stahlteile nach Ingenieurangaben her und berücksichtigt dabei die Qualitätsmanagementvorgaben des Ingenieurs und sorgt für einen angemessenen Oberflächenschutz
- Es wird eine handelsübliche oder vom Ingenieur spezifizierte Lifeline beschafft und installiert.
- Der verantwortliche Ingenieur nimmt die Installation ab und gibt sie zur Benutzung schriftlich frei.
Er entscheidet, ob vorgängig ein Prototyp in der selben Konfiguration getestet werden muss (abhängig von seinem Erfahrungsschatz) - Der Ingenieur entscheidet, ob die Installationsabnahme beim Umsetzen erneut durch ihn oder durch den PSAgA Verantwortlichen vor Ort erfolgt.